Das langsame Sterben des Cyberspace

Das langsame Sterben des Cyberspace
rm 12.12.2010

Bits und Bytes, Computer, Programme, Netzwerke.
Das Netz der Netze, das Internet.
Eine weltweite Community von begeisterten Informatikern erforscht die neuen Möglichkeiten.
Email, FTP, Gopher, Diskussionsgruppen, WWWW, Chat, …
Eine virtuelle Welt entsteht, die niemand anfassen kann. In der alles gestaltet werden kann, was sich nur ausdenken lässt. Cyberspace! Netcitizen nennen sich später die Menschen in ihrer virtullen Existenz.

Es riecht nach unbegrenzter Freiheit, nach Anarchie im positiven Sinne. Wer sich schlecht benimmt, bekommt die Netiquette unter die Nase gerieben. Neue Protokolle werden für den Cyberspace werden im Cyberspace vorgeschlagen, abgestimmt, das bessere setzt sich durch.
Eine Welt, die für viele ein guter Ersatz wird für die reale Welt mit ihren Ungerechtigkeiten, Benachteiligungen, Diskriminierungen. Cyberspace, unbegrenzte Weiten, international und weltweit.

Aber schon bald beginnt die heile Welt Cyberspace mit der realen Welt in Konflikt zu geraten. Die ersten Risse tun sich auf. Konzerne und Behörden mischen sich ein, beanspruchen bestimmte Namen für sich. Geschäfte werden über das Internet abgewickelt, echte Geschäfte mit echtem Geld. Gegen Betrügereien ruft man juristische Maßnahmen herbei.
Lächerlich, dachten wir damals, welches Gericht, welches Land soll da bestimmen können, in dieser virtuellen Welt, die doch nur aus Bits und Bytes besteht? Aber wir haben zu früh gelacht. Gesetze wurden gemacht, Gerichte entschieden, oftmals skurril, manchmal auch durchaus vernünftig. Uns liefen eiskalte Schauer über den Rücken. Können unsere Regierungen uns unseren Cyberspace kaputt machen? Gut, die Namensrechte bei Top-Level-Domains, das leuchtete noch ein. Vieles andere nicht.
Und die weite Welt des Cyberspace bot so viel andere Möglichkeiten.
Aber die Mächtigen der Welt ließen nicht locker, lassen bis heute nicht locker. Immer mehr Gesetze werden angepasst auf die „Bedürfnisse“ des Internet, obwohl die, die das Netz der Netze geschaffen haben, an dieser Regelmentierung gar kein Interesse hatten und haben. Inzwischen gibt es schon eigene Gesetze, die sich nur auf das Internet beziehen.
Viele der Insider gehen in den Untergrund. Unter dem Mantel der Anonymisierungsmöglichkeiten schaffen und erhalten sie sich ihren eigenen Lebensraum in der virtuellen Welt. Sich selbst bezeichnen sie stolz als Hacker. Die reale Welt mit ihren Regierungen und Gesetzen und Gerichten verwendet das Wort Hacker als Schimpfwort (ebenso die Massenmedien wie Zeitungen und Fernsehen), für die, die sich mit den immer enger werdenden Regeln nicht abfinden wollen. Eine Hackerethik wird schon früh entwickelt und formuliert, in der der Anspruch aller Netzbenutzer auf die totale Informationsfreiheit festgeschrieben wird, und gleichzeitig allen wirklich bösartigen Online-Tätigkeiten abgeschworen wird. Die breite Öffentlichkeit macht aber keinen Unterschied zwischen diesen edlen Hackern und den Crackern, einer anderen Subkultur im Netz, denen nichts heilig ist, deren Lieblingsbeschäftigung das Aufbrechen von Kopierschutzmaßnahmen ist und die Sammlung möglichst vieler Raubkopien von Software und Medien.
Als den Einschränkern, den Gesetzeschreibern und Moralisten der Fortschritt bei der Verbannung der Freiheiten im Netz nicht schnell genug, nicht total genug vor sich ging, wurden wir mit allerlei Schreckensvisionen über die Notwendigkeit noch viel ärgerer Maßnahmen überschüttet: Immer wieder Drohgeschichten über Kinderschänder, Raubkopierer, Atombombenbauer, Bankkundendatenklauer, Terroristen und so weiter und so fort – als ob es die alle nicht sowieso immer gegeben hätte.
Und so werden die Begründungen geliefert, um weitere Gesetze und Verbote durchsetzen zu können, und nach der Freiheit im Netz muss man bald mit der Lupe suchen.
Cyberspace? Was ist das denn? Ach ja, das hatten wir doch mal, diese wilden anarchischen Zeiten, lang ist es her, Gott sei Dank!
Ich glaube nicht, dass Gott sich darüber freut.
Der Aufschrei im Web, insbesondere im Web2.0, über den weltweiten Kreuzzug gegen WikiLeaks lässt nochmal so ein Gefühl aufkommen, es gäbe noch die Freiheit der Information und das Recht auf Veröffentlichung der Wahrheit, aber mir scheint, das ist eher ein letztes Aufflackern eines verlöschenden Feuers. Genau diese Aktionen (CableGate, PayBack, LeakSpin etc.), die da jetzt laufen, werden schon allzu bald als Begründung für das Stopfen der letzten Schlupflöcher herhalten müssen. Die Schandtaten unserer Regierungen anprangern? Anprangern dürfen? Das wäre ja noch schöner… Anprangern können? Das werden wir gleich abdrehen…
Und vom Cyberspace als neuem, großem, grenzüberschreitendem Freiraum der Menschheit bleibt nur ein fader Nachgeschmack.

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